Holzminden (sst). „Der Täter sitzt seine Strafe ab, das Opfer hat lebenslänglich.“ Unter dieser Devise fand am 8. Dezember in der HAWK die Veranstaltung „Im Blick: Beziehungsgewalt gegen Frauen“ um 16:30 Uhr statt. Eingeladen wurde von der HAWK persönlich sowie vom Weissen Ring und dem Landkreis Holzminden. Der 25. November als jährlich internationaler Aktionstag gegen Gewalt an Frauen wurde für diese Veranstaltung als Anlass gewählt. Die ehemalige Studentin Silke Clerc stellte dabei ihre prämierte Bachelorarbeit: „Beziehungsgewalt gegen Frauen im ländlichen Raum – Anforderungen an ein bedarfsgerechtes Hilfesystem“ vor. Die Präsentation diente als Impulsgabe für eine anschließende Podiumsdiskussion bezüglich der Unterstützungsangebote speziell im Landkreis Holzminden. 

Sobald man das Gebäude betreten hat, konnte man im großen Lichthof der HAWK viele Stände und Pinnwände mit Informationsmaterial in Form von Broschüren oder Heften in Augenschein nehmen. Nach einem kurzen Rundgang versammelten sich alle im Veranstaltungsraum. Auffällig war, dass insbesondere weibliche Interessenten ihren Platz in einem Hörsaal ähnlichen Raum der Hochschule fanden. Die Grußworte hingegen an die zahlreichen Interessenten wurden von drei Männern gesprochen: Prof. Dr. Matthias Weppler (Fakultät Management, Soziale Arbeit, Bauen) begrüßte das Publikum mittels einer Videobotschaft, in die der Professor in das wichtige Thema mit den Worten einleitete: „Gewalt gegen Frauen war schon immer ein sehr tabuisiertes Thema und dies muss schleunigst geändert werden. Ich habe selbst wenig Bezugspunkte hinsichtlich dieser Thematik, weshalb ich umso dankbarer bin für diese Veranstaltung.“ Dies unterstützt auch der stellvertretende Landrat vom Landkreis Holzminden Wulf Kasperzik, der die zwanzigjährige Beständigkeit der BISS, eine Beratungs- und Interventionsstelle bei häuslicher Gewalt, und dessen kontinuierlichen Nutzen thematisiert und so nötiges Handlungs- und Engagementbedarf hervorhebt. Darüber hinaus verspricht er, dass die Errichtung eines Frauenhauses erfolgen muss und erfolgen wird. Werner Friedrich als Vertreter vom Weissen Ring betont zusätzlich, dass während der Corona-Pandemie die Gewalt an Frauen verstärkt zugenommen habe. Diese Gewalt drücke sich in verschiedenen Formen aus. Darunter fallen Beleidigungen, Bedrohungen, Nötigung, Körperverletzung bis hin zu Mord. Zudem ist es Werner Friedrich wichtig zu betonen, dass auch die betroffenen Kinder, die solche Zustände im Elternhaus miterleben müssen, langfristig davon Schaden tragen. 

Die Moderatorin der Veranstaltung Kristin Escher, Gleichstellungsbeauftragte der Fakultät, führte nun zum Kernstück des Abends hin, die Präsentation der Bachelorarbeit von Silke Clerc. Die Referentin fokussierte sich bei ihrer Arbeit ausschließlich auf die Gewalt an Frauen durch Männer innerhalb einer Beziehung, denn dafür liege eine höhere prozentuale Rate vor als bei Männern, die Gewalt durch ihre Frauen erfahren. Silke Clerc leitet damit ein, dass körperliche, psychische und sexuelle Gewalt ineinander greifen können und es oftmals das Ziel des Mannes sei, die Macht über die Frau zu haben. Dies begründe sich aus dem traditionellen Rollenbild zwischen Mann und Frau. Der Mann versorgt die Familie durch seine Arbeit, während die Frau daheim bleibt und als Hausfrau auf die gemeinsamen Kinder aufpasst. Dadurch entwickle sich ein Dominanzgefühl des Mannes. Entweder besitzt er diese Dominanz und vermag sie zu nutzen, oder die Beziehung weicht vom traditionellen Rollenbild ab, und der Mann sucht die Dominanz durch Gewalt im Sinne des Stärkeren. 

Silke Clerc hat sich jedoch nicht nur auf den Gewaltursprung bezogen, sondern vor allem einen Fokus auf Beziehungsgewalt im ländlichen Raum gelegt. Der Landkreis Holzminden sei dabei ein ländlicher Raum, da er keine direkte Nähe zu einer Großstadt aufweise, die meistens Bewohner überdurchschnittlich alt seien und viele abwandern würden. Die Herausforderungen von Beziehungsgewalt innerhalb ländlicher Regionen seien deshalb nicht weniger ernst zu nehmen als in Großstädten, sondern seien noch schwerwiegender zu meistern. Denn in ländlichen Räumen fehle es häufig an Anonymität, jeder kennt jeden. Die Gewalt werde dadurch beispielsweise von der Betroffenen verdeckt gehalten aus Angst, jemand könne das eigene Auto bei einer Hilfsorganisation erkennen und dem Mann davon berichten. Andererseits könnte der Täter ein angesehener Nachbar sein, ein Vereinsfreund oder ehrenwerter Kollege, weshalb dieser durch sein Prestige geschützt werde. Ein anderer herausfordernder Faktor ist die Infrastruktur. 

„Wie sollen die Frauen zu einer Hilfsorganisation gelangen, wenn kein Bus fährt? Wie sollen sie zu einer Hilfsorganisation gelangen, wenn die Anfahrtszeiten zu lang sind oder der Weg zu Fuß zu weit? Wie sollen sie überhaupt zu einer Hilfsorganisation gelangen, wenn flächendeckend keine vor Ort ist?“, brachte es Silke Clerc damit auf den Punkt. Darüber hinaus sei die Weitläufigkeit ländlicher Region problematisch, denn wer soll den Schrei hören, wenn niemand in Reichweite ist, wie in einem Mehrfamilienhaus mit dünnen Wänden in einer Großstadt? 

Neben den räumlich-strukturellen Herausforderungen nahm Silke Clerc auch Bezug auf die jeweiligen Gedanken der Betroffenen selbst. Zunächst einmal sei dabei eines der größten Probleme, dass die Frauen annehmen, zu dieser Gewalt beizutragen und somit denken, das Problem selbst lösen zu können ohne professionelle Hilfe, also Beziehungsgewalt als reine Privatangelegenheit betrachten. Darüber hinaus herrsche ein vielseitiges Abhängigkeitsverhältnis von Frauen gegenüber dem Mann. Dieses könne beispielsweise wirtschaftlich orientiert sein und die Befürchtungen hervorrufen, nicht genügend Geld für die Kinderversorgung als Alleinerziehende aufbringen zu können. Anderseits könne noch immer eine emotionale Bindung zum Partner bestehen, sodass die Frau aus Liebe und aus Hoffnung, er würde sich ändern, bei ihrem Mann bleibt. Der soziale Aspekt der potenziellen Stigmatisierung, also die Ausschließung aus der Gesellschaft, spiele dabei ebenfalls eine wichtige Rolle. 

Allerdings liege es nicht nur an den Frauen selbst, sich nicht an eine Hilfsorganisation zu wenden, sondern auch teilweise an den Beratungsstellen. Diese sollten sich nämlich immer die Frage stellen, ob die Zielgruppe tatsächlich erreicht wird oder ob mehr Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden muss. 

Silke Clerc fasst ihre zahlreichen Ausführungen mit folgenden Worten zusammen: „Das gesellschaftliche Bewusstsein für die Beziehungsgewalt-Problematik fehlt und insbesondere im ländlichen Raum bleiben viele Gewaltverbrechen unentdeckt.“ Daher forderte die ehemalige Studentin dringende Forschung und Studien im ländlichen Raum, um die Dunkelziffer der von Gewalt betroffenen Frauen aufzudecken. Diese ausführliche Steilvorlage leitete nun die Podiumsdiskussion mit Sigrun Brünig, Gleichstellungsbeauftragte des Landkreises Holzminden, als Moderatorin ein. Neben Silke Clerc selbst nahmen Anita Hummel, Beratungsstelle für Frauen und Mädchen bei Mobbing, Stalking, Bedrohung und Gewalt, Werner Friedrich vom Weissen Ring sowie als Vertreter des Polizeikommissariats Holzminden Christian Rusniok an der Diskussion teil. Auf Nachfrage von Sigrun Brüning schilderte der Hauptkommissar das Vorgehen der Beamten, wenn ein Anruf bezüglich häuslicher Gewalt bei der Dienststelle eingeht. Zunächst werde versucht, so viele Informationen wie möglich durch das Telefonat zu erhalten, beispielsweise ob Kinder vor Ort sind, ob der Täter, Christian Rusniok spricht hier oft von „Aggressor“, selbst vor Ort ist. Danach machen sich zwei Streifenwagen auf den Weg zur Unfallstelle und klären den Sachverhalten. Darunter fällt, ob Alkohol und Drogen im Spiel sind oder ob ärztliche Hilfe vonnöten ist. Sichtbar erkenntliche Verletzungen werden durch Fotografie dokumentiert und mit in das Beweismaterial aufgenommen. Je nach Vorfall kann im Folgenden beim Amtsgericht ein Beschluss für Annäherungsverbot an die Frau oder Familie eingeholt werden. Sigrun Brünig vermochte nun zu wissen, wie die weiteren Vorgehensweisen der jeweiligen Beratungsstellen wie die BISS aussehen, nachdem sie einen Polizeibericht erhalten haben. „Wir gehen immer ganz proaktiv vor. Das heißt, dass wir die Betroffenen direkt anrufen mittels der hinterlegten Telefonnummer bei der Polizei und somit der Sachverhalt nochmal in Ruhe geschildert werden kann“, erklärt Anita Hummel. Die Frauen würden darauf auch immer sehr dankbar reagieren, weil sie einfach jemanden haben, der ihnen Gehör schenkt, ergänzt Silke Clerc, die selbst seit Anfang Oktober bei der BISS-Beratungsstelle arbeitet. Insgesamt gehen in den Beratungsstellen zwei Drittel Selbstmelder ein und ein Dritter über Polizeiberichte. Manchmal werden Frauen auch an den Weissen Ring verwiesen, beispielsweise aufgrund von finanzieller Hilfebedürftigkeit, wenn Mietkosten ausstehen. Im Laufe dieser Diskussion wurde immer deutlicher, dass auch hier Personalmangel einen großen Problemfaktor darstellt. Die BISS-Stelle war für ein halbes Jahr unbesetzt, sodass Betroffene viel weniger Anlaufstellen hatten. Das Schöne wiederum an der Diskussionen war jedoch, dass sie interaktiv stattgefunden hat und sich somit auch das Publikum beteiligen konnte mittels Fragen. 

Anschließend konnte im Lichthof die lebendige Diskussion weitergeführt werden mit einem kleinen Buffet. Dort war zusätzlich eine Siegerfahne aufgehängt worden für den „Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen“. Diese Fahne wurde von den Studierenden selbst entworfen. Eine Ausstellung zu anderen Entwürfen war ebenfalls im Lichthof zu sehen, wodurch die Veranstaltung passend abgerundet beendet wurde. Bei zusätzlichem Interesse kann das Buch von Silke Clerc zu ihrer gleichnamigen Bachelorarbeit in der HAWK-Bibliothek ausgeliehen oder in jeder Buchhandlung bestellt werden.