Kreis Holzminden (r). Kirchenraum alternativ nutzen: In einem dreisemestrigen Praxisprojekt entwickelten Studierende im Masterstudiengang Architektur an der HAWK, Standort Hildesheim, neue Szenarien für Kirchräume in Südniedersachsen. Zusammen mit Mitgliedern aus fünfzehn Kirchengemeinden im Ev.-luth. Kirchengemeindeverband Friedland/Obernjesa (FriedO) kamen am Ende des Prozesses ganz unterschiedliche und ungewöhnliche Szenarien für die 20 Gotteshäuser heraus. Denn die Gemeinden wollen und müssen in Zeiten von Sparplänen ihre Räume mit eigenwirtschaftlichen Mitteln zukunftsfest machen - und darüber hinaus sich auch weiter der Gesellschaft öffnen. Der Kanuverleih in der Kapelle sowie eine Kletterwand, ein Co-Workingspace im Kirchenschiff, mit Sitzsack-Lounge statt Bänken oder vielleicht doch eine Kunstkirche? Das alles war durchaus denkbar für die Teilnehmenden nach gemeinsamen, szenisch gestalteten Zukunftswerkstätten, organisiert durch die HAWK-Studierenden. Die Ideen basierten auf Umfrageergebnissen, die die Studierenden ganz am Anfang des Prozesses in den Gemeinden gewonnen hatten.

„Wir waren sehr positiv überrascht und auch angetan, dass die Beteiligten sich sehr offen darauf eingelassen haben“, sagt Prof. Dr.-Ing. Birgit Franz, Professorin für Bauwerkserhaltung und Denkmalpflege. Es habe durchaus auch kritische Stimmen gegeben, doch dabei wurde nach vorne geschaut und die Menschen waren bereit, auch eingefahrene Pfade zu verlassen.

Zusammen mit ihren Kolleg*innen Prof. Dr.-Ing. Georg Maybaum und Sonja Tinney betreute Franz die bis zu zwanzig Studierenden während des Projekts. „Der erste Schritt ist, sich die ganzen Kirchen in Ruhe anzuschauen, den Ort auf sich wirken lassen und den Geist des Ortes zu erspüren“, sagt Franz über den langwierigen Prozess, in dem die Studierenden Stück für Stück neue Nutzungskonzepte erarbeiteten. Am Anfang hätten sie die Kirchen grob ausmessen müssen, um überhaupt Plangrundlagen zu haben. Jede*r Studierende habe dann fünf bis sieben Kirchen bearbeitet, und für diese eine erweiterte Nutzung vorgeschlagen. Diese präsentierten sie aber nicht nur in normalen Vorträgen, sondern bauten ihre Ideen teils prototypisch und spotartig in die Gotteshäuser mit einfachen Mitteln ein.

Im Kirchendach in Deiderode hing als Beispiel für die Nutzung als Kunstkirche eine Installation aus Krepppapierstreifen, rot und gelb, ein flammender Himmel. Maxime Müller, Architekturstudierende an der HAWK, hatte auch noch eine weitere Idee: An einer Pappwand im Altarbereich konnten sich die Besucher*innen mit ihren Silhouetten verewigen. In Stockhausen erkannten Teilnehmende verschiedene Umrisse von Sportgeräten aus Pappe, die an einer Wäscheleine hingen, als eine Auswahl an denkbaren Aktivitäten für die neue, weitere Nutzung als Sportkirche. „Man konnte dann eine Sportjacke anziehen und sich mit seinem Lieblings-Sportgerät per Polaroid fotografieren lassen“, beschreibt Franz diese Ergebnispräsentation. Die Projektidee hatte Juliane Beil, HAWK-Studierende - die auch die Auswertung in einem anschließenden Workshop leitete: „Wir mussten am Anfang erstmal grundsätzlich klären, was Sportkirche bedeuten kann“, sagt sie. An einer weiteren Stellwand konnten die Teilnehmenden dann ihre Lieblingsideen mit einem kleinen Klettball markieren.

So hätten die Teilnehmenden auch schneller einen Zugang zum Thema Sport bekommen, indem sie die Aktivität, die sie persönlich reizt, „anfassen“ konnten. Oder die Kirche als gemeinschaftliches Büro: Zwölf Co-Working-Plätze an den Wänden des Kirchenschiffes und in der Mitte, anstelle der Bänke, eine kleine Lounge mit Sitzsäcken, die zum Entspannen einladen. „Gerade in Zeiten von Corona werden auch Plätze geschaffen, wo man nicht die ganze Zeit hinpendeln muss“, beschreibt HAWK-Student Georg Flotho die Grundidee des Konzepts, denn Co-Working-Büros werden nicht nur in Großstädten benötigt, wo es Bedarf nach einer ruhigen Umgebung für das gemeinsame Arbeiten gebe. „In der Kirche in Dramfeld herrschte eine ganz besondere Atmosphäre“, erinnert sich Franz an den Workshop, die Menschen seien davon unglaublich angetan gewesen. Dokumentiert wurde das gesamte Projekt per Foto und Video, ebenfalls hochschulintern von Studierenden der Fakultät Gestaltung in Hildesheim, unter Betreuung von Prof. Andreas Magdanz.

Gefördert wurde das Praxisprojekt von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien im Rahmen des Soforthilfeprogramms „Kirchturmdenken. Sakralbauten in ländlichen Räumen: Ankerpunkte lokaler Entwicklung und Knotenpunkte überregionaler Vernetzung“. Die HAWK hat dabei die erfolgreiche Antragstellung des Ev.-luth. Kirchengemeindeverbands Friedland/ Obernjesa (FriedO) maßgeblich vorbereitet, unterstützt und mit Leben gefüllt. Alle Ideen sollen in den Gemeinden als Gesprächsgrundlagen dienen, es haben sich bereits Arbeitsgruppen gebildet, um vielleicht einige der Vorschläge in die Tat umzusetzen. Das Projekt hat aber jetzt schon eine überregionale Anknüpfung: Zum Evangelischen Kirchbautag 2022 in Köln wurden die Hochschul- und FriedO-Beteiligten eingeladen, über die Zukunftswerkstätten einen Workshop zu veranstalten. ### Beteiligte an den Zukunftswerkstätten:

Von der Fakultät Bauen und Erhalten die Studierenden Fabian Maximilian Busch, Juliana Beil, Georg Flotho, Maxime Müller, Tatjana Szymanowski, Amelie Traupe und Rahel Winnefeld mit den Lehrenden Birgit Franz, Steven Koop, Georg Maybaum und Sonja Tinney und extern Gerald Klahr. Darüber hinaus waren an den zugrunde gelegten Ideen für erweiterte Nutzungspotentiale die Studierenden Fatma Arayan, Franziska Atzesdorfer, Jessica Bertram, Jasmin Dackweiler, Oguz Dede, Dilara Demirhan, Marcus Frommhagen, Patricia Huperz, Janine Ide, Sandra Kesselmeier, Kaltrina Maloku, Cemile Ölcer und Hanno Meenken ebenfalls beteiligt. Die Filmdokumentation lag bei der Fakultät Gestaltung der HAWK in den Händen der Studierenden Alan Korogodski und Niklas Poweleit (Kamera, Motion, Design, Edit) sowie Lara Köhler (Drohnenaufnahmen) und wurde von Andreas Magdanz, Lehrender an der Fakultät Gestaltung, begleitet.

Foto: HAWK