Hildesheim (red). Zum Internationalen Tag der Sprachentwicklungsstörung am 15. Oktober hat Bianka Wachtlin, Logopädin und HAWK-Verwaltungsprofessorin, einen eindeutigen Appell: „Wir dürfen diese Kinder nicht aus den Augen verlieren“, sagt sie. 

Wie äußern sich Sprachentwicklungsstörungen? Diese treten als Folge einer primären Erkrankung, zum Beispiel einer Hörstörung, oder als isolierte Störung im Laufe des Spracherwerbs auf. Dabei können verschiedene Modalitäten der Sprache und des Sprechens betroffen sein. Unterschieden werden die Bereiche Aussprache, Wortschatz, Grammatik und Kommunikationsverhalten. Meistens sind mehrere Aspekte betroffen. Typisch sind auch individuelle Unterschiede. Studien zeigen, dass ca. sieben Prozent der Kinder von einer Sprachentwicklungsstörung betroffen sind, das sind etwa zwei Kinder in jeder Kindergartengruppe oder Schulklasse. „Die Idee, dass sich eine Entwicklungsstörung verwächst, ist wissenschaftlich nicht zu belegen“, sagt Wachtlin und weist auf die Möglichkeit hin, im Verdachtsfall Logopäden, Kinderärzte und auch Zahnärzte um Rat aufzusuchen. 

Denn je nach Schweregrad und Komplexität der Störung kann sich diese langfristig auf die Entwicklung eines Kindes auswirken und auch noch im Schulalter weiter fortbestehen. 

Dies könne häufig auch zu Folgestörungen führen: Kinder mit einer Sprachentwicklungsstörung werden beispielsweise als ängstlicher oder hyperaktiver erlebt als typisch entwickelte Kinder. Da das schulische Lernen stark auf Sprache und Sprechen aufbaut, fällt Kindern und Jugendlichen mit einer Sprachentwicklungsstörung das Lernen allgemein oft schwer. Es drohen später Schwierigkeiten nicht nur in Mathematik oder Deutsch, sondern in allen Fächern, in denen Lerngegenstände oder Aufgabenstellungen über Sprache vermittelt werden. In Kitas müsse der Austausch zwischen Fachkräften und Eltern gestärkt und die Sprachbildungsprozesse sowie Fördermöglichkeiten bei Sprachentwicklungsproblemen durch das Unterstützungssystem der Fachberatung erweitert werden, so Wachtlin weiter. 

Dass die Corona-Pandemie das Erkennen von möglichen Sprachentwicklungsstörungen erschwere, zum Beispiel durch den Wegfall vieler Schuleingangsuntersuchungen und der dazugehörigen Beratung vielerorts, habe auch Wachtlin durch viele private Gespräche mit Eltern bemerkt: „Es gibt anscheinend Kinder, die physiologisch nicht aufgefallen sind, aber nun in der ersten Klasse Störungen aufzeigen – das ist weder für die Kinder, die Eltern noch für die Lehrkräfte auf lange Sicht gut.“

Warum ein internationaler Tag der Sprachentwicklungsstörung? 

Der Internationale Tag der Sprachentwicklungsstörung stammt aus Großbritannien („raising awareness of developmental language disorder“, https://raddld.org). Hintergrund ist, dass Umfrageergebnisse im Jahr 2010 ergaben, dass in der Bevölkerung in Großbritannien wenig Wissen über SES bestand. SES schien unsichtbar. Danach begannen sowohl eine wissenschaftliche Debatte als auch ab 2013 eine große Öffentlichkeitskampagne. 

Zunächst haben sich in einem Delphi-Verfahren, einem Experten basierten Abstimmungsprozess, führende Wissenschaftler*innen auf einen einheitlichen Begriff für die Störung geeinigt: „developmental language disorder“. Diesen Konsens herzustellen war gar nicht so einfach und hat sich über mehrere Jahre erstreckt. Seit 2019 wird auch hier in Deutschland in Fachkreisen über die Definition und Terminologie dieser Störung diskutiert. Federführend ist hier die Gesellschaft für interdisziplinäre Spracherwerbsforschung und kindliche Sprachstörungen im deutschsprachigen Raum, kurz GISKID (https://giskid.eu). Sie können dem Geschehen auf Twitter über die Schlagworte folgen: #DenkSprache #DenkSES. Die Initiator*innen des internationalen Tages stellen seit mehreren Jahren wissenschaftlich fundierte Materialien zusammen. Wissenschaftler/innen aus der ganzen Welt steuern Übersetzungen in anderen Sprachen bei. So können sich Interessierte, Betroffene und Fachkräfte, die mit Kindern und Jugendlichen mit SES zusammenarbeiten, über den Youtube-Kanal „RALLIcampaing“, die Internetplattform https://radld.org und den dort zu findenden zahlreichen Informationsmaterialien über die Störung informieren. SES und deren Folgen sollen nicht weiter unsichtbar sein.